CD

über BRAZAVENTURE

Brazaventure by Céline Rudolph

Interview mit Céline Rudolph
„Ganz Körper, ganz Seele“

Du hast dein neues Album “Brazaventure” in São Paulo mit dem renommierten Produzenten Rodolfo Stroeter und bekannten MusikerInnen wie Marcos Suzano, Toninho Ferragutti, Paulo Bellinati, Monica Salmaso sowie Sérgio Santos eingespielt. Klingt ungewöhnlich.
Die Initialzündung ging von Gilberto Gils Album „Oslodum“ aus. So wurde ich auf den Produzenten Rodolfo Stroeter aufmerksam. Er verbindet auf diesem Album Tradition mit Moderne und mehrere Kontinente miteinander. Im Lauf seiner Karriere hat er mit großartigen KünstlerInnen wie Joyce, Caetano Veloso, Nana Vasconcelos, Milton Nascimento und vielen anderen gearbeitet.
Alles MusikerInnen, die ich schon lange verehre. Zudem ist er auch mit dem Jazz vertraut. Er verbindet mit seiner Band „Pau Brasil“ brasilianische Rhythmen mit der improvisatorischen Haltung, die dem Jazz entstammt. Ich nahm Kontakt auf und schickte ihm meine Aufnahmen. Rodolfo gefiel mein Sound und meine Energie.
Wir trafen uns schließlich bei ihm zu Hause in São Paulo und sprachen lange über Musik. „Simple and beautiful“ – so sollte die Musik klingen. Unsere Idee war, eine songorientierte Form mit poetischen Melodien zu schaffen, die von starker Perkussion getragen werden.
MeineKompositionen sollten aus dem eher offenen Jazzkonzept heraus in eine neue Welt der süchtig machenden brasilianischen Grooves transportiert werden. Rodolfo lud Musiker aus São Paulo, Rio de Janeiro und Belo Horizonte ins Studio ein – eben jene wunderbaren Musiker, die jetzt auf „Brazaventure“ zu hören sind.

Woher rührt dein großes Interesse an Brasilien?
Ich war schon in meiner Kindheit von brasilianischer Musik umgeben. Mein Vater hatte eine riesige Plattensammlung, die vor allem aus Jazz, afrikanischer und brasilianischer Musik bestand. Er erzählt mir noch heute, dass ich zu Hause „Rosa Morena“ von João Gilberto mitsang. Da war ich fünf Jahre alt. Damals verstand ich die portugiesische Sprache noch nicht. Dafür liebte ich die Laute, die sanften Melodien und Stimmen. Als Jugendliche habe ich begonnen, Portugiesisch zu lernen und Bossa Nova auf der Gitarre zu spielen. So habe ich die brasilianische Musik immer als etwas Vertrautes erlebt. Etwas, das keinen Anfang kennt, weil es immer schon da war. Das Land Brasilien habe ich erst sehr viel später kennen gelernt. Ich bin ein paar Wochen mit dem Auto durchs Land gezogen, bevor ich ins Studio ging. Im Oktober 2006 haben wir „Brazaventure“ live in São Paulo vorgestellt. Wir hatten einen Riesenerfolg in dem schönen Theater Sesc Pompéia. Das Publikum hat mich mit offenen Armen empfangen, und ich konnte etwas von dem zurückgeben, was Brasilien für mein musikalisches Leben bedeutet. Da ist sozusagen ein Traum wahr geworden …

Du singst in mehreren Sprachen, u. a. Französisch, Englisch und Portugiesisch. Was bedeutet dir diese “Vielstimmigkeit”?
Jede Sprache hat für mich ihre eigene kulturelle Information und Identität, die in den Text hineinspielt. Manche Dinge lassen sich in der einen Sprache besser oder leichter sagen als in der anderen. Und zu jeder Sprache habe ich eine eigene Beziehung: Französisch ist die Sprache meiner Mutter, also die Sprache, die ich als erste gehört habe. Erst dann kam das Deutsche, in dem ich mich heute am meisten zuhause fühle, das auf „Brazaventure“ auch in dem bearbeiteten Volkslied zu hören ist. Englisch ist mit der Jazztradition verbunden, Portugiesisch mit der brasilianischen Musik, aber auch mit dem Dichter Fernando Pessoa. Und natürlich verlangt jede Musik einen anderen Sprachklang, eine andere Sprachmelodie. So kreiere ich mir oft eine Sprache, die eigentlich nur ihrem Klang verpflichtet ist, aber durch ihren Gestus zu einer Bedeutung kommt. Immer wieder werde ich gefragt, in welcher Sprache ich denn gesungen hätte – es sind Phantasiesprachen, die mal afrikanisch, asiatisch, brasilianisch oder slawisch klingen. Auf „Brazaventure“ habe ich natürlich vorwiegend brasilianische Klänge verwendet.

Auf dem Album finden sich unter anderem Stücke von Baden Powell, John Coltrane und MC Solaar – eine schöne Bandbreite.
Ich empfinde es als natürlich, Musik zu spielen, die auf den ersten Blick verschiedenen Welten entstammt. Die große Klammer ist meine Stimme und natürlich unsere starke Percussion-Section.

Du arbeitest oft mit KünstlerInnen aus verschiedenen Kontinenten. Welche Unterschiede siehst du? Welchen Reiz empfindest du?
Es ist, als würde ich verschiedene Orte meiner musikalischen Heimat besuchen. Als hätte ich beim Musikmachen das Land gefunden, das meine Phantasiesprache spricht, eine Sprache, deren Wurzeln in dem Quadrat von Europa, Afrika, Nord- und Südamerika liegen.

Du arbeitest auch als Professorin für Jazzgesang in Dresden. Wie vertragen sich freies Künstlertum und Hochschulkarriere?
Es ist und bleibt zeitlich ein Spagat, der sich um ein drittes Unternehmen erweitert: meine Familie.

1995 warst du zum Studienaufenthalt in Westafrika bei dem Perkussionisten Famoudou Konaté. Mit welchen Eindrücken und Erfahrungen bist du zurückgekehrt?
Bei Famoudou habe ich diese intensiven, tranceartigen Zustände erlebt, in denen ich nicht mehr Musik machte, sondern Musik war. Als ein Teil des rhythmischen Gefüges ging ich im Ganzen des Grooves auf. Der Körper ist Schwingung, die Schwingung ist Ewigkeit und Glück. Keine Fragen, keine Antworten. Du schaust in das Gesicht der anderen und siehst in einen Spiegel – pure Lebensfreude. Auch die rituelle Seite der afrikanischen Musik hat mich geprägt: der Sänger als Geschichtenerzähler, als Heiler, als Priester. Das alles verkörpere ich in einer Liveperformance, gehe durch allerhand Zustände, in denen ich alles fließen lasse. Meine Musik hat sich nach der Afrikareise stark verändert. Ich habe neue rhythmische Ideen mitgebracht, die Marimba entdeckt und mit viel Holz und dunklen Farben gearbeitet – so zu hören auf dem Album „Segredo“ mit meinem „Dark Wood Project“.

Du bist in jüngster Zeit mehrfach in der Band von Startrompeter Dusko Goykovich aufgetreten. Wie war die Zusammenarbeit?
Es hat großen Spaß gemacht, zu seinem 75. Geburtstag mit ihm und seiner Band in Belgrad aufzutreten – das Publikum hat getobt! Ich habe Kompositionen von Villa-Lobos, Baden Powell und Monk gesungen. „A descoberta da lentidão“ („Die Entdeckung der Langsamkeit“), das ich für sein aktuelles Album geschrieben habe, erfüllt Duskos wunderschöner Ton mit Seele.

Was bedeuten dir Liveauftritte? Auffällig ist deine starke Performance, die Umsetzung der Musik in Körpersprache.
Der Liveauftritt ist mein eigentliches Element. Ich liebe das Adrenalin, das Hier und Jetzt, die Überraschung, die Kraft, die die Bühne mir verleiht. Jede Studioaufnahme hat dagegen vorläufigen Charakter, kann wiederholt und verändert werden. Auf der Bühne spüre ich den Raum, spüre ich das Publikum als Teil der Performance. Das Publikum verstärkt meine Energie. Hier gebe ich mich der Musik ganz hin und werde durchlässig, werde ganz Körper, ganz Seele.

Welche Lieblingsalben hast du? Wer sind deine musikalischen Vorbilder?
Richie Beirachs „Sunday Songs“ mit den Chopinbearbeitungen kann ich in einem Zug mitatmen. In Abdullah Ibrahims „Echoes of Africa“ kann ich immer wieder versinken. Baden Powells „Afrosambas“ sind für die Ewigkeit in mir verankert, so auch João Gilbertos „Amoroso“. Miles Davis’ Version von „Someday my prince will come“ und Udo Lindenbergs Balladen machen mir Gänsehaut. Die neue französische „Le Pop“-Welle finde ich total spannend und natürlich Richard Bona.

Mantra Céline Rudolph 6:32
Jongo Sérgio Santos 3:31
My one and only love Wood / Mellin 4:08
Deixa Baden Powell / Vinicius de Moraes 3:00
Brazaventure Céline Rudolph 1:58
Lélé Céline Rudolph 5:44
Naima John Coltrane  3:48
Midsummer Flight Céline Rudolph 5:31
Victime de la mode MC Solaar 3:48
Numenam Céline Rudolph 4:05
Wenn ich ein Vogel wär (Se eu fosse um pássaro) Traditional arr. by Céline Rudolph 2:43

Céline Rudolph・voice
Toninho Ferragutti・accordion
Paulo Bellinati・acoustic guitar
Rupert Stamm・vibraphone
Rodolfo Stroeter・bass
Jovi Joviniano・percussion, voice
Marcos Suzano・percussion
Sérgio Santos・voice & acoustic guitar on track 2
Mônica Salmaso・voices on track 8
Teco Cardoso・flutes, saxophones on track 8 & 10
Tilmann Dehnhardt・alto flute on track 4 & 6

Produced by Rodolfo Stroeter & Céline Rudolph
Recorded at Plinta’s Studio São Paulo by Alberto Ranellucci
Mixed at Tom Brasil Studio São Paulo by Alberto Ranellucci
Additional recording, mixing and mastering at A-Trane Studio Berlin by Holger Schwark
Cover Photos by Ann Weitz
Photos in Rio de Janeiro by Ralf Rudolph
Photos in São Paulo by Céline Rudolph and band members
Artwork by Joerg Grosse Geldermann / NEXT
Released 2007 by enja records